Arbeitsgruppe „Pandemie: Lessons to be Learned“. Neuausrichtung von Gesundheitssicherheit in Staat und Gesellschaft

Arbeitsgruppe „Pandemie: Lessons to be Learned“. Neuausrichtung von Gesundheitssicherheit in Staat und Gesellschaft

Laufzeit: 2023-2025
Leitung: PD Dr. iur. A. Katarina Weilert, LL.M. (London)

 

Die Corona-Pandemie hat das Themenfeld der Gesundheitssicherheit mit all seinen Facetten in einem besonderen Maße bedeutsam werden lassen. Die Corona-Aufarbeitung hat längst schon in der Pandemie begonnen, nicht nur von der Politik und staatlich hierzu berufenen Einrichtungen wie dem Deutschen Ethikrat, sondern auch von der wissenschaftlichen Fachwelt. Mittlerweile ist die Bewertung des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit der Corona-Pandemie aus der Phase der unmittelbaren Krisenbewältigung in eine reflektierte Phase der stärkeren Hinterfragung zunächst unvermeidlich erscheinender Handlungslogiken übergegangen. Zum Teil liegt dies an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen (die etwa die Schul- und Kitaschließungen retrospektiv als fragwürdig erscheinen lassen), zum Teil aber auch daran, dass ein Klima der Angst während der Pandemie den öffentlichen Diskurs nicht gefördert hat und Kritik an staatlichen Maßnahmen vorschnell als Unterminierung der Staatsgewalt gelten konnte. Der „Obrigkeitsstaat“ kehrte in einer Weise zurück, die vor der Pandemie kaum für denkbar gehalten worden wäre. Damit gehen Fragen an das Machtverhältnis von Staat und Bürger und an das Staatsverständnis einer freiheitlichen Demokratie einher. Gleichfalls stellen sich Fragen zwischen der wissenschaftlichen Fundierung politischer und rechtlicher Instrumente und Maßnahmen neu.

Es ist nun also die Phase eingeläutet, in der es nicht mehr um erste Einschätzungen und schnelle Reaktionen gehen kann, sondern Raum geboten wird zu gründlichem und auf spezifische Fragestellungen fokussiertem Nachdenken. Dazu hat sich an der FEST eine neue wissenschaftliche interdisziplinäre Arbeitsgruppe konstituiert. Sie soll einerseits die immer wieder auszutarierende Balance zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz sowie Freiheitsschutz in den Blick nehmen (die durch die Corona-Rechtsprechung des BVerfG, aber auch den Klimaschutzbeschluss Anlass zu Diskussionen bietet), aber auch auf die Erarbeitung von Regelungsstrukturen gerichtet sein, die Staat und Gesellschaft zur Pandemiebewältigung benötigen. In einem ersten Schritt ist Bilanz zu ziehen, bevor in einem zweiten Schritt die rechtliche Einhegung des Risikomanagements neu zu justieren ist.

 

Erste Konsultation (21./22. Juli 2023): Bestandsaufnahme

Ihren Start hat die AG „Pandemie: Lessons to be learned“ mit einer ersten Konsultation an der FEST in Heidelberg am 21./22. Juli 2023 gefunden. Thematisch im Vordergrund stand zunächst die medizinische Perspektive. Einleitend ließ Katarzyna Skipiol in ihrem Vortrag „COVID-19 – Wo stehen wir heute?“ die Pandemie Revue passieren und informierte unter anderem über die verschiedenen Maßnahmen. Besondere Einblicke in die Auswirkungen auf Krebspatienten gab Prof. Dr. med. Dr. phil. Eva Winkler („Vulnerable Gruppen in der Pandemie – eine onkologische Perspektive“). Am Beispiel eines Schweizer Skigebietes präsentierte Prof. Dr. med. Joachim E. Fischer ein Alternativmodell zur deutschen Lockdown-Taktik („Der kluge Einbezug von Public Health: Safe Mountain – Freiräume statt Lock-Down schaffen: Das Beispiel der Skigebiete in Graubünden im Pandemie-Winter 2020/21“). Darauf folgte durch Univ.-Prof. Dr. Heiner Fangerau ein historischer Rückblick auf „Gesellschaft und Politik in vergangenen Pandemien“, wo einige Parallelen und auch „Lessons to be learned“ zur heutigen Situation ersichtlich wurden. Ein die erste Konsultation abschließender Vortrag inklusive Diskussionsrunde zu „(verfassungs-)rechtlichen Desideraten“ von Prof. Dr. Josef Franz Lindner, der auch konkrete Anhaltspunkte für zukünftiges gesetzgeberisches Handeln bot, rundete den interdisziplinären Tagungstag ab.

 

Zweite Konsultation (27. Oktober 2023): Interdisziplinäre Perspektiven auf das pandemische Risiko

Eine zweite Konsultation fand am. 27. Oktober 2023 als Zoom-Konferenz statt. Zunächst wurde durch Dr. Johannes Bracher in das seit dem Pandemiegeschehen zentral gewordene Thema von „Vorhersagen und ihrer Unsicherheit: Prädiktive epidemiologische Modellierungen“ eingeführt. Den Modellierungen kam im Rahmen der Politikberatung zu Maßnahmen in der Pandemie eine entscheidende Rolle zu. Klärungsbedarf gibt es auch hinsichtlich des noch offenen und unbestimmten Risikobegriffs, der durch Prof. Dr. Michael Knipper („Ein kurzes Schlaglicht auf den Risikobegriff – aus der Perspektive der Medizin“) aus medizinischer, durch PD Dr. A. Katarina Weilert („Der juristische Risikobegriff“) aus rechtlicher und durch Dr. phil. Christoph Schickhardt („Risikobegriff aus philosophischer Sicht“) aus philosophischer Perspektive beleuchtet wurde. In diesem Zusammenhang zeigte Prof. Dr. Thorsten Moos Probleme hinsichtlich der „Handlungslegitimation angesichts von pandemischen Risiken“ auf. Einen letzten Denkanstoß aus soziologischer Perspektive lieferte Univ.-Prof. Dr. phil. Klaus Kraemer („Befürchtungsgemeinschaft im Whiteout – Kollektivmoral als Weichensteller staatlicher Pandemiepolitik“), indem er den Diskurs darüber eröffnete, ob eine Kollektivmoral einer Befürchtungsgesellschaft als Motor für staatliche Risikoentscheidungen fungiert haben könnte.

 

Dritte Konsultation (7./8. März 2024): Expertise und Entscheider

Die dritte Konsultation fand aufgrund des Bahnstreiks hybrid statt. Nach begrüßenden und einleitenden Worten von PD Dr. A. Katarina Weilert zum Thema „Expertise und Entscheider“ berichtete Prof. Dr. Volker Gehrau aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht über die „Nutzung und Wirkung unterschiedlicher Quellen von Gesundheitsinformationen während der COVID-19 Pandemie“. Dabei gab insbesondere eine Studie aus dem Münsterland tiefere und graphisch anschauliche Einblicke zur Entwicklung der Quellennutzung ab dem Frühjahr 2020 bis zum Herbst 2020. Sodann regte Prof. Dr. Marian Burchardt mit seinem Vortrag zum Thema „Die Expertokratie unter Druck: Citizen Science, alternative Fakten und epistemische Fragmentierung in der Pandemie“ zur regen Diskussion an. Zum Abschluss des ersten Tagungstags stellte Dr. phil. Christoph Schickhardt „eine wissenschaftsethische Reflexion“ über „Experten und ihre politischen Rollen“ vor. Im Zuge dessen nahm er den FAZ-Artikel von Caspar Hirschi „Wenn Wissenschaft zu Ideologie wird“, der sich mit der Leopoldina Ad-hoc-Stellungnahme vom 8.12.2020 befasst, sowie eben diese Stellungnahme näher unter die Lupe.

PD Dr. iur. A. Katarina Weilert eröffnete den zweiten Tag mit einem Vortrag über „Das Robert Koch- Institut als wissenschaftliche Grundierung des politischen Pandemiemanagements. Ein Institut als Hybrid zwischen Wissenschaft und Exekutive.“ Dabei führte sie ihr symbiotisches Modell ein, durch das sich Ressortforschungsinstitute charakterisieren lassen, da es entgegen anderer geläufiger Modelle von einem Zusammenfallen von Expertise und Legitimation ausgeht. Im letzten Vortrag der Konsultation erläuterte Dr. Pedro A. Villareal die „Internationale öffentliche Gewalt und Pandemiesteuerung: Die Rolle wissenschaftlicher Beratung bei der WHO“, insbesondere die externe Beratung bei WHO-Entscheidungsprozessen. Geprägt war die Tagung erneut von regem Austausch und großem inhaltlichen Interesse seitens der Teilnehmenden.

 

Die Arbeitsgruppe ist dem üblichen Format an der FEST folgend auf drei Jahre à 2 Konsultationen angelegt; die nächste Zusammenkunft soll im Herbst 2024 stattfinden. Im Vordergrund steht der wissenschaftliche interdisziplinäre Austausch, der in eine Publikation münden soll.