Altern als Selbstverwirklichung-Ausgangshypothesen und Ziele

Ausgangshypothesen und Ziele

Die Ziele des Netzwerks ergeben sich aus drei forschungsleitenden Ausgangshypothesen, die zunächst skizziert werden sollen.

  1. Ausgangshypothesen:

Die erste unserer drei Ausgangshypothesen lautet, dass der alte Mensch in den modernen westlichen Gesellschaften dem Druck zweier Erwartungshaltungen ausgesetzt ist, die in steigendem Maß die sozialen Institutionen durchdringen und direkt oder indirekt die Angehörigen der späten Lebensalter adressieren: der Anspruch sozialer Produktivität (a) und derjenige der Selbstverwirklichung (b). Diese Erwartungshaltungen reichen bis in die – in der Gerontologie und mittlerweile auch der breiten Öffentlichkeit geläufige – Unterscheidung des Dritten und Vierten Lebensalters hinein, insofern sie die altersspezifischen Momente von Selbstgestaltung und Depotenzierung entkoppelt und die Selbstgestaltung dem Dritten, die Depotenzierung dem Vierten Lebensalter zuordnet. Leitbilder und Narrative erfolgreichen und scheiternden Alterns stehen mitunter brüsk nebeneinander. So arbeiten etwa Pharmawerbung und Ratgeberliteratur mit prägnanten Dualen von hoher mentaler Leistungsfähigkeit auf der einen Seite und Schreckbildern von mentaler Depotenzierung bis hin zur Demenz auf der anderen Seite.

Zu (a): Die Entwicklung der Sozialgerontologie in den vergangenen vierzig Jahren bezeugt einen Wandel gesellschaftlicher Alterskonzepte, der dem ökonomischen und im weiteren Sinne gesellschaftlichen Interesse an der Altersaktivierung entgegenkommt – vom dis­engaged ageing der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen und den Ruhestand weitgehend passiv verlebenden Alten über das active ageing der Freizeitvirtuosen bis zum productive ageing ungebrochen geschäftiger alter Menschen, worunter die Gerontologen Robert N. Butler und Herbert P. Gleason bereits in den 1980er Jahren die Fähigkeit eines Individuums oder einer Population verstanden, „to serve in the paid workforce, to serve in volunteer activities, to assist in the family, and to maintain himself or herself as independently as possible“. Das Konzept des aktiven oder produktiven Alters korreliert mit sozialpolitischen Bemühungen um eine Aktivierung des so genannten Dritten Lebensalters. So heißt es etwa im Fünften Altenbericht der Bundesregierung: „Das Know-how, die Kompetenz und die Lebenserfahrung der Älteren dürfen weder in der Wirtschaft noch in der Gesellschaft weiter ungenutzt bleiben.“ Es wäre aber andererseits nicht angemessen, Konzepten des active oder productive ageing grundsätzlich zu unterstellen, sie seien bloße Erfüllungsgehilfen sozialpolitischer Imperative, die ihrerseits wiederum lediglich den Sachzwängen der ökonomischen Rationalität folgen würden. Denn diese Konzepte erheben in der Regel selbst den Anspruch, gesellschaftlich anerkannten individualethischen Erwartungen eines gelungenen Lebens besser gerecht zu werden als Konzepte des disengaged self. Klärungsbedürftig ist daher nicht nur der Zusammenhang zwischen Konzepten des aktiven Alters und politischen Strategien der Ressourcenmobilisierung älterer Menschen, sondern auch der kulturelle Horizont individualethischer Erwartungen, innerhalb dessen die Entstehung von Konzepten des aktiven Alters plausibilisiert werden kann.

Zu (b): Dieser Horizont wird in den modernen westlichen Gesellschaften durch das Ideal der Selbstverwirklichung charakterisiert. Begriffe wie derjenige der Selbstverwirklichung tauchen in der sozialgerontologisch einschlägigen Literatur explizit zur Konzeptualisierung der Lebensorientierung im Alter auf – so etwa in der von Infratest 1991 in Auftrag gegebenen Studie „Die Älteren. Zur Lebenssituation der 55- bis 70jährigen“. Über die ‚neuen Alten‘, die sich nicht mehr durch Konzepte des disengaged ageing sollen fassen lassen können, heißt es dort: „Sie wollen die Chance, die das ‚Älterwerden‘ in ihren Augen bietet, aktiv nutzen. Selbstverwirklichung, Kreativität, Persönlichkeitswachstum, Aufgeschlossenheit für das Neue stehen im Zentrum ihrer Lebensansprüche.“ Das Ideal der Selbstverwirklichung ist nun allerdings alles andere als trivial, denn es bildet den normativen Kern des modernen Individualismus. Dabei wird dann im Allgemeinen an die Entfaltung persönlicher Eigenschaften und Anlagen gedacht, an die Ausbildung von Fähigkeiten, die Ausübung unseres Willens zur Erfüllung von subjektiv relevanten Bedürfnissen, Wünschen und Präferenzen, die Verfolgung von subjektiv bedeutsamen Zielen; dies alles soll sich aber nach gängigen Vorstellungen vor allem im Horizont von Lebensplänen abspielen, die aus eigenem Entschluss gefasst und ausgeführt werden. Damit wird das individuelle Leben einem hohen Bewährungsanspruch einzigartiger Individuierung unterworfen, an dem der Einzelne immer auch scheitern kann. Und diesem Bewährungsanspruch ist wiederum in besonderer Weise der alternde Mensch ausgesetzt, insofern er mit einer sukzessiven Reduktion seiner geistigen, seelischen und körperlichen Vermögen konfrontiert wird bzw. diese Abbauprozesse antizipiert. In milieudifferenzierter Hinsicht gilt es hierbei zu problematisieren, dass die Bewältigungsmöglichkeiten der Individuen vom Ausmaß ihrer lebensgeschichtlich erworbenen materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen abhängt.

Das Alter zeichnet sich also durch eine spezifische Intensivierung der Bewährungsanforderungen aus, die mit den Paradigmen der Altersproduktivität und der Selbstverwirklichung verbunden sind. Die mit dem zwanglosen Zwang sozialer Werte, hier: der individuellen Produktivität und Selbstverwirklichung, dem Einzelnen angesonnene Initiative, etwas aus seinem Alter ‚zu machen‘, trifft nun – so unsere zweite Ausgangshypothese – zunehmend auf Orientierungsangebote, die sich in den Diskursen über das ‚productive‘ oder ‚successful ageing‘ in der Sozialgerontologie, der Gesundheitsvorsorge in der Präventivmedizin und Medizinethik sowie der Plastizitätsforschung und des Enhancement in den Neurowissenschaften sowie vor allem in den Schnittbereichen dieser Diskurse bilden und insbesondere in den vielfältigen Formen ihrer medialer Aufbereitung von populärwissenschaftlichen Publikationen über das Feuilleton und einschlägige Talkshows im Fernsehen bis zur Ratgeberliteratur nicht nur der Krankenkassen popularisiert werden. Und es zeichnen sich bereits Debatten ab, in denen die Leistungen der Kranken- und Rentenversicherungen auf der Basis des Präventionswissens in der Medizin und des Wissens über Plastizität in den Neurowissenschaften neu verhandelt werden. Es ist davon auszugehen, dass ein diskursiv initiierter Wandel von Individualitätskonzepten in dem Spannungsgefüge von sozialer Produktivität und individueller Selbstverwirklichung sozialpolitische Konsequenzen nach sich ziehen wird.

Unsere dritte und letzte Ausgangshypothese lautet, dass der diskursiv initiierte Wandel kultureller Altersdeutungen das Selbstverständnis der Alten beeinflusst oder gar prägt. Es ist zu erwarten, dass die alten Menschen sich nach Maßgabe ihrer jeweils individuellen Konstellation von Selbstgestaltungsmöglichkeiten und Depotenzierungsaussichten zu den sozialen Imperativen der Produktivität und Selbstverwirklichung verhalten, d.h. sie jeweils bezogen auf ihre eigene Lebenssituation interpretieren, akzeptieren oder zurückweisen. Andererseits nehmen sie vornehmlich über ihr bürgerschaftliches/freiwilliges Engagement sowie über (selbst-)organisierte Interessenvertretungen Einfluss auf die gesellschaftlichen Alters- und Generationendiskurse. Die allgemeinen sozialen Deutungsmuster treffen demnach auf die jeweils besonderen Lebensbedingungen der alten Menschen und treten zu diesen in ein kritisch-konstruktives Spannungsverhältnis, das für ihre Altersidentität konstitutiv ist.

II. Ziele:

Auf der Grundlage der drei skizzierten Ausgangshypothesen verfolgt das Netzwerk nun folgende Ziele: die Hypothesen der sozialen Erwartungshaltungen produktiven Alterns und der Selbstverwirklichung im Alter in ihrer Wechselbeziehung zu prüfen (1), die Transformation von Konzepten der Individualität durch Popularisierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Schnittfeld von Alters- Vorsorge-, Bildungs- und Plastizitäts- bzw. Enhancementdiskurs zu rekonstruieren (2) sowie die durch diese Diskurse beeinflussten Veränderungen im Selbstbild alternder und ihr Alter antizipierender Menschen zu identifizieren (3).

Zu (1) – Deutungsmuster der Lebensführung in der ‚alternden‘ Gesellschaft:
Die sozialen Erwartungshaltungen der Produktivität und der Selbstverwirklichung stehen in einem dynamischen und spannungsvollen Wechselverhältnis zueinander, das Tendenzen begünstigt, einerseits die Maßstäbe der Produktivität an der Rationalität des Strebens nach Selbstverwirklichung zu orientieren und andererseits diese wiederum in Begriffen der Produktivität und des Erfolgs zu formulieren. Die besagten Erwartungshaltungen erhöhen wiederum die Chance, das Alter als eine Lebensphase zu verstehen, deren biologisch determinierte Entwicklungen mentaler Depotenzierung durch präventive Maßnahmen der Selbstsorge zu verzögern, zu kompensieren und in Eigenregie als kontrollierter Selbstabbau zu gestalten sind. Unter dem Bewährungsdruck des Selbstverwirklichungsideals und seiner Verbindung mit gesellschaftlichen Produktivitätserwartungen werden die Alten mit dem Problem konfrontiert, die absehbare Abnahme physischer und geistiger Leistungsfähigkeit und die Verknappung von Zeitressourcen der Verwirklichung von Lebensplänen mit dem Anspruch maximal möglicher individueller Souveränität in die Gestaltung des verbleibenden Lebens einzubinden. Wie gehen sie mit diesem Problem um, welche Lösungen finden sie und auf welche Deutungsangebote greifen sie dabei zurück? Der Individualismus der Jugend ist ein Individualismus der Selbststeigerungsvirtuosität, der des Alters ein Individualismus der Selbstbewahrung. Zu fragen ist darüber hinaus, ob und wie die lebenspraktische Bewährung in den späten Lebensaltern zum Bezugspunkt gesellschaftlich kommunizierter Konzepte der Lebensgestaltung auch im mittleren Lebensalter wird, insofern die Antizipation schwindender Kräfte die alternden Individuen zu präventiven Maßnahmen des self-design und am Ende des Lebens zur Ausbildung spezifischer Kompetenzen des Selbstabbaus disponieren soll – bis hin zur Programmformel des ‚selbstbestimmten Sterbens‘. Inwieweit werden sozial relevante Deutungsmuster erfolgreicher Lebensführung auf die Bewährung in den späten Lebensaltern hin ausgerichtet? Wie setzen die Alten vor dem Hintergrund der unterstellten gesellschaftlichen Erwartungshaltungen Depotenzierungserfahrungen in einen Selbstabbau um, der subjektiv als Prozess der Ratifizierung oder gar Steuerung des Eingeschränkt-Werdens gedeutet werden kann? Eine Zentrierung der Lebensgestaltung auf die Bewährung der späten Lebensalter im Horizont von Produktivitäts- und Selbstverwirklichungserwartung würde dem demographischen Wandel korrespondieren, demzufolge sich in den vergangenen vierzig Jahren die jährliche Geburtenzahl halbiert hat, während die dem Einzelnen verfügbare Lebenszeit im Durchschnitt gestiegen ist – mit entsprechenden Konsequenzen für die Altersstruktur der Gesellschaft. Tendiert die Gesellschaft zu einer Bedeutungsverschiebung individueller Bewährung vom mittleren auf die späten Lebensalter? Lässt sich gegebenenfalls an solchen Prozessen das ‚Älterwerden‘ einer Gesellschaft ablesen?

Zu (2) Individualitätskonzepte im Schnittfeld wissenschaftlicher und wissenschaftspopularisierender Diskurse:
Wir widmen uns den Schnittbereichen von vier wissenschaftlich-gesellschaftli­chen Diskursen: Das sind erstens der Diskurs über das Gehirn und seine Umwelt in der neurowissenschaftlichen Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Thematik „Plastizität“; zweitens der Diskurs über die Gesundheitsvorsorge zwischen Präventivmedizin und Sozialpolitik; drittens der Diskurs über das Alter in der sozialgerontologischen Auseinandersetzung mit dem productive und successful ageing und viertens der Diskurs über das Konzept des ‚lebenslangen Lernens‘ in der Bildungsforschung. Man kann sich den Zusammenhang dieser Diskurse graphisch in der Gestalt vierer Kreise mit unterschiedlichen thematischen Schnittmengen und einer gemeinsamen Schnittmenge aller Kreise veranschauli­chen. Die Aufgabe ist es, die verschiedenen Überschneidungen zu identifizieren und einer Analyse der in ihnen wirksamen Individualitätskonzepte zu unterziehen. Führen die Ergebnisse der Plastizitätsforschung zu neuen Normierungen recht verstandener Selbstsorge? Werden Bildungskonzepte des ‚lebenslangen Lernens‘ unter dem Druck neurowissenschaftlicher und präventivmedizinischer Forschungsergebnisse zunehmend naturalisiert? Treten an die Stelle traditionell geisteswissenschaftlicher Ressourcen der Bildungsentwicklung solche des naturwissenschaftsbasierten Trainings unserer mentalen Ausstattung? Gibt es unter Bedingungen der exakten naturwissenschaftlichen Forschung Tendenzen einer immer rationelleren Methodisierung der Selbstsorge? Neben der Untersuchung der Verzahnung der Wissenschaftsdiskurse verspricht vor allem die Analyse entsprechender Popularisierungen in der Ratgeberliteratur, den zielgruppenspezifischen Zeitschriften sowie gegebenenfalls auch in fiktionaler Literatur und im Film Aufschluss über die wissenschaftsinduzierten Orientierungsangebote, die alternden Menschen zur Erfüllung von Produktivitäts- und Selbstbestimmungsimperativen gemacht werden.

Zu (3) – Spannungen zwischen kulturellen Altersdeutungen und Selbstdeutungen der Alten:
Schließlich gilt es, den Transfer von den wissenschaftlichen Diskursen und ihren öffentlichkeitswirksamen Ablegern in die Deutungsmuster lebenspraktischer Selbstverständigung im Alter zu untersuchen. Unter dem Bewährungsdruck des Selbstverwirklichungsideals und insbesondere seiner Verbindung mit gesellschaftlichen Produktivitätserwartungen werden die Alten mit dem Problem konfrontiert, die absehbare Abnahme physischer und geistiger Leistungsfähigkeit und die Verknappung von Zeitressourcen zur Verwirklichung von Lebensplänen mit dem Anspruch maximal möglicher individueller Souveränität in die Gestaltung des verbleibenden Lebens einzubinden. Wie gehen sie mit diesem Problem um, welche Lösungen finden sie und auf welche Deutungsangebote greifen sie zu ihrer Lösung zurück? Hier sind vor allem alternde und alte Menschen zu befragen, die Bildungsprogramme nutzen, sich präventiven Strategien der Mobilisierung von Persönlichkeitspotentialen unterziehen oder sogar Formen fürsorglichen Umgangs mit ihrem Gehirn kultivieren. Denn Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften lassen Anwendungen möglich erscheinen, die gesundes Altern und lange Selbständigkeit durch eigenes Engagement zur Forderung und Förderung ihres Gehirns erlauben. Sich lebenslang um sein Gehirn zu kümmern, soll sich im Alter auszahlen. Welche Quellen lebenspraktischer Selbstverständigung nutzen diese Menschen? Aus welchen Motiven nutzen sie präventivmedizinische Angebote? Wie begreifen sie sich im Generationenverhältnis zu ihren (Enkel-)Kindern und Eltern? Wie verhalten sie sich zu Fragen des Lebensendes und des Todes? Welches Verhältnis unterhalten sie zu Institutionen sozialer Vergemeinschaftung? Neben Interviewstudien bietet sich hier die Analyse von Publikationen aus dem Bereich der Seniorenselbsthilfe, von Ratgeber- oder autobiographischer Literatur an, sofern diese als Reflex von Selbstdeutungen alter Menschen gelesen werden können.